Pakistan – ein gescheiterter Staat

Pakistan – ein gescheiterter Staat?  

©Frank Vorbach Dezember 2012

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Vorbemerkung: In die Untersuchung über die Staatlichkeit Pakistans sind der Krieg in Afghanistan, die Rolle der USA oder der Konflikt mit Indien nicht in dem Umfang berücksichtigt worden, wie es zu einer umfassenden Bewertung der Rolle Pakistans im Internationalen System notwendig ist. Hier waren die innerstaatlichen Strukturen, Prozesse und Faktoren zu untersuchen, eine ausführlichere Darstellung hätte den vorgegebenen Umfang gesprengt.

I. Pakistan grenzt im Norden an die drei höchsten Gebirgszüge der Welt, den Hindukusch, das Karakorum und den Himalaya. Pakistans höchster Berg ist der zweithöchste der Welt, der K2 (8.611m) im Karakorum. Im oberen Tal des Indus liegt der Nanga Parbat (8.125m), ein bekannter Berg des Himalaya. Zum pakistanischen Staatsgebiet gehören insgesamt 5 Achttausender. Der Indus, der im Transhimalaya entspringt und dann im oberen Industal pakistanisches Staatsgebiet erreicht, fließt in südlicher Richtung durch Pakistan. Zunächst durch das Punjab Tiefland, das auch ´5 –Stromland` genannt wird, weil mehrere große Flüsse dort vom Indus aufgenommen werden, dann durch die Region Sindh und mündet schließlich im Arabischen Meer. Im Westen Pakistans liegt die Region Belutschistan, die an Afghanistan, im Süden an den Iran grenzt und dann am südlichen Ende zum Arabischen Meer abfällt.

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Im Nordwesten Pakistans liegt die Provinz Kh y b e r Pa k h t u n k h w a (früher North – We s t F r o n t i e r P r o v i n c e (NWFP), zu der auch die FATA, Federal Administered Tribal Areas (Föderal verwaltete Stammesgebiete), mit einer langen gemeinsamen Grenze in unwegsamen, gebirgigen Regionen zu Afghanistan gehört. Die Bezeichnung federal administered ist in Wirklichkeit irreführend, denn der Einfluss der pakistanischen Regierung über die Politischen Agenten aus Islamabad ist hier praktisch nicht vorhanden. Diese Agenten werden vom Gouverneur der NWFP ernannt, sie haben keine direkte Regierungs- oder Verwaltungskompetenz und sind auf Kooperation mit den Stammesführern angewiesen. Die politische, gesellschaftliche und soziale Lage in diesen Stammesgebieten war das Erbe der britischen Kolonialpolitik, die diesen Stämmen Autonomie gewährte, weil sie sich vehement, gewaltsam und erfolgreich gegen die Versuche der Briten wehrten, den Stämmen eine britische Verwaltung und Jurisdiktion auf zu zwingen. Diese Lage hat sich insofern verändert, als die herkömmlichen´geschlossenen` Stammesgesellschaften seit dem Dschihad gegen die russischen Besatzer, dem Krieg zwischen der Nordallianz und den afghanischen Taliban und der amerikanischen/ Nato Intervention gegen die Taliban in Afghanistan grundlegenden Änderungen unterworfen wurden. Charismatische und erfolgreiche Guerillaführer und Dschihadisten gewannen an Autorität und etablierten sich erfolgreich in Konkurrenz zu den traditionellen Clan – oder Stammesführern (Maliks) in den FATA. In den Jahren 2004/5 festigten beispielsweise die pakistanischen Taliban ihre Herrschaft in Nord- und Südwaziristan. Sie verhielten sich dort, wie in den 1990er Jahren in Afghanistan, als sie u.a. Fernsehen, Musik und Internet verboten. In dieser Zeit töteten sie 60 Stammesälteste und religiöse Führer, weil sie vermeintlich amerikanische Spione waren.(1) So wie es den Briten nicht gelang, die Stämme dieser Region unter ihren Einfluss zu bekommen, so ist auch die pakistanische Regierung heute nicht in der Lage und Willens, den grenzüberschreitenden Verkehr, den Waffen – und Rauschgifthandel, die Kommandeure der terroristischen Ausbildungslager, von den Terroristen erzwungene Veränderungen der gesellschaftlichen Stammesstrukturen und kriminelle Organisationen zu kontrollieren. Dazu trägt nicht zuletzt auch die schwer zugängliche gebirgige Landschaft bei.

II. Im Vorlauf der Entstehung Pakistans agierten in der Kolonie British India während der 1930er Jahren die Congress Partei der Hindus und die Muslim League als politische Parteien. Einer der maßgeblichen Politiker der Muslim League wurde M.A.Jinnah, der ursprünglich auch Mitglied der Congress Partei und Freund Ghandis war. In dieser Zeit wurde in der Muslim League der Gedanke eines muslimischen Staates kontrovers diskutiert. Im März 1940 fasste die Muslim League auf einem Parteitag die sogenannte ´Lahore Resolution`, historisch häufig als ´Pakistan-Resolution` bezeichnet, obwohl Pakistan darin nicht erwähnt wurde. Ali Jinnah propagierte danach die ´Zwei Staaten Theorie`, eines seiner Argumente war, dass die zahlenmäßig weit überlegenen Hindus in einem demokratischen politischen System die Belange der Muslims nicht entsprechend berücksichtigen würden. „ The Hindus and Muslims belong to two religious philosophies, social customs, literature. [...] To yoke together two such nations under a single state, one as a numerical minority and the other as a majority, must lead to growing discontent and final destruction of any fabric that may be build up for the government of such a state.“(2)

Als ´British India` unabhängig wurde, entstand Pakistan als muslimischer Staat und die Indische Union als hinduistischer Staat. Der Name Pakistan wurde von Rahmat Ali konstruiert, P – Punjab, A – Afghanistan, K – Kaschmir,

image013 I (- und) S – Sindh, TAN – Belutschistan.(3)   Diese Namenskonstruktion gibt Hinweise auf die Heterogenität des Gebildes Pakistan. Pakistan gliederte sich 1947 in 2 Teile, West – und Ost – Pakistan, das ca. 1600km entfernt auf der anderen Seite des indischen Sub-Kontinents lag. Pakistan erhob 1947 und erhebt noch heute Anspruch auf Kaschmir, dessen Bevölkerung mehrheitlich Muslims sind und das geteilt von Indien und Pakistan verwaltet wird. Bis heute gab es 4 von Pakistan initiierte Kriege zwischen Pakistan und Indien, in denen Pakistan erfolglos versuchte, seine Ansprüche auf Kaschmir gewaltsam (militärisch und/oder durch Guerilla-Kriegführung) durch zu setzen. Ein Ergebnis des Kaschmirkriegs 1971 war die Gründung des selbständigen Staates Bangladesch, das mehrheitlich von Muslimen bewohnt wird.

II.1 Allgemeine Daten und Fakten(4):
Pakistan ist der zweitgrößte muslimische Staat (6. größter der Welt) und der einzige muslimische Staat ( 1956 zur ersten Islamischen Republik ausgerufen), der Nuklearwaffen besitzt.

Die Hauptstadt ist Islamabad, die Staatsform ist föderale Republik, bestehend aus 4 Provinzen Belutschistan, Khyber Pakhtunkhwa (früher North-West Frontier Province), Punjab, Sindh und den FATA ( Federal Administered Tribal Areas ). Die von Pakistan verwaltete Region in Kaschmir besteht aus den Bezirken Azad Kashmir und Gilgit-Baltistan.

Politisches System: Präsidentielle Demokratie, Staatspräsident Asif Ali ZARDARY (seit September 2008)
Ministerpräsident Raja Pervaiz ASHRAF (seit 22 Juni 2012)

Die Bevölkerung setzt sich überwiegend aus folgenden ethnischen Gruppen zusammen:

Punjabi 44.68%, Pashtun (Pathan) 15.42%, Sindhi 14.1%, Sariaki 8.38%, Muhajirs 7.57%, Balochi 3.57%, other 6.28%.

Pakistan hat eine Fläche von 796,095km2, davon landwirtschaftlich nutzbar: 24,44%.

Einwohner: 190,291,129 (July 2012 est.) Altersstruktur: 36. der Welt, 0-14 Jahre 35.4%, 15-64 Jahre 60.4%, 65 Jahre und älter 4.2%.

Geburtenrate: 5 Geburten/Frau (Bevölkerungswachstum 3,4%) Kindersterblichkeit: 6.8 Tote/1,000 Lebensgeborenen, 26. der Welt

Landbevölkerung: 36% der Gesamtbevölkerung (2010)

Grossstädte: Karachi 13.125 Millionen; Lahore 7.132; Faisalabad 2.849; Rawalpindi 2.026; ISLAMABAD (Hauptstadt) 832,000 (2009)

Klima: heiß und trocken in den Wüstenzonen, gemäßigt im Nordwesten und kalt in der nördlich-gebirgigen Zone.

Natürliche Ressourcen: Ackerland, umfangreiche Erdgas- Vorkommen, begrenzte Erdölvorkommen, Steinkohle von minderer Qualität, Eisenerz, Kupfer, Salz und Kalkstein.

Natürliche Gefährdungen: Häufige Erdbeben, besonders schwere im Norden und Westen des Landes, schwere Überschwemmungen im Verlauf des Indus, besonders nach heftigen Regenfällen (Monsun) im Juli und August.

Wirtschaft: Interne politische Querelen bis hin zu terroristischen Aktionen haben zu sehr geringen ausländischen Investitionen, einem geringen Wirtschaftswachstum und Unterentwicklung geführt. Textilien sind der Hauptexportartikel. Pakistan hat es versäumt, die wirtschaftliche Basis zu diversifizieren und ist daher abhängig von der weltweiten Nachfrage für Textilien. Geringes Wirtschaftswachstum, Inflation und rapide steigende Preise für Lebensmittel haben die Armut verstärkt, 50% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze (UN Human Development Report 2011). Bedingt durch politische und wirtschaftliche Instabilität ist die pakistanische Rupie mehr als 40% abgewertet worden. Geldrücksendungen von im Ausland arbeitenden Pakistani belaufen sich auf ca. eine $US Milliarde. Pakistan ist in einer Zwickmühle mit niedrigen und sinkenden Exporterlösen für Baumwolle und steigenden Kosten für Energieträger. Pakistan muss lange aufgeschobene Probleme der notwendigen Steigerung der Steuereinnahmen (nur ein geringer Anteil der Bevölkerung zahlt überhaupt Steuern), der Energieproduktion und wirksamer Maßnahmen zur Wachstumssteigerung realisieren, um notwendig Arbeitsplätze für die stetig wachsende Bevölkerung zu schaffen.

GDP US$ million. 176869.6 (Deutschland US$ 3.003 Billionen (2010 est.)

GDP nach Wirtschaftszweig: Landwirtschaft 20,9%, Industrie 25,8%, Dienstleistungen 53,3%.

GDP pro Kopf: $2,800 (2011 est.) 174.der Welt

Arbeitskräfte:  Industrie 58,41 Millionen, 10. der Welt. Landwirtschaft: 45%, Industrie 20,1%, Dienstleistungen 34,9%.

Steuerquote: > 10%  (OECD Staaten ca. 36%)

Streitkräfte Pakistans (5)

Gesamt:                                                                      642.000 Aktive

Heer                                                                              550,000

Luftwaffe                                                                      70.000

Marine                                                                           22.000

Paramilitär                                                                  304.000

Strategische Kräfte:

Heeres- + Luftwaffenkommando:                   12.000-15.000   60 Raketen (30 Kurz-                und 30 Mittelstrecken Raketen), 1-2 Staffeln F-16A/B oder Mirage 5 als                                                     Nuklearwaffenträger (Strike)

 Heer                                                                           9 Korps + Kommandos

1 Oberkommando
1 Gruppe Spezialkräfte (3 Bataillone)                                                                                                  22 Divisionen                                                                ca. 2400+ Panzer,
ca. 4600 Artillerie-Einheiten Raketenwerfer
Flugabwehr ( Raketen + Kanonen)

Marine                                                                           8 U-Boote (konventionell) 10Fregatten,                                                                 1Spez Kampfgruppe, anti-U-Boot, Transporter, Hubschrauber Marinefliegerkräfte.

Luftwaffe                                                                       13 Staffeln, ca. 450 Kampfflugzeuge (Jagd-     Jagdbomber Flugzeuge Land und See), Elektronische Kampfführung, Frühwarnung und Einsatzführung, Tanker, Transporter,  7 Batterien Luftverteidigungsraketen

III.      Der Staat Pakistan.

III.1    Um die Fragestellung nach der Beschaffenheit Pakistans als Staat zu beantworten, sind zunächst die Begriffe zu klären, die im Zusammenhang mit Staatlichkeit wissenschaftlich gebräuchlich sind. Der Begriff Staat wird je nach Sichtweise (Völkerrecht, Soziologie, Ökonomie etc.) unterschiedlich definiert. Hier wird die völkerrechtliche Beschreibung des Begriffs Staat = Staatsgebiet – Staatsvolk –Staatsgewalt verwendet. Nach dem heutigen, modernen Staatsbegriff konstituiert sich der Staat durch den Anspruch einer Zentralgewalt als Mittel zur politischen und institutionellen Kontrolle über das Staatsgebiet und seiner Bevölkerung und als Garant der Ordnung nach Innen und Außen.(6) Dabei ist zu bemerken, dass der Staat in der geübten Form des Völkerrechts die formale Anerkennung durch andere Staaten zur vollen Wirksamkeit seiner Souveränität nach Innen und Außen braucht.

Welche Funktionen und Leistungen kann/muss der Staat erbringen? Die Staaten des Internationalen Systems sind heterogen, haben spezifische Eigenheiten, deren Entstehung und Entwicklung generell von politischen, sozialen, kulturellen, religiösen und geographischen Bedingungen geprägt ist. Die Zeitschrift Foreign Policy (FP) und die Organisation Fund For Peace veröffentlichten einen Index über die Beschaffenheit der Staatlichkeit aller UN Staaten. (http://www.foreignpolicy.com/failedstates).  Die

Rangfolge der Staaten bei FP ist

⇒ most stable,

⇒ stable,

⇒ borderline,

⇒ in danger und

⇒ critical.

Schneckener SWP (siehe Endnote 5) stellt 4 Grundtypen von Staatlichkeit vor:

⇒ den konsolidierten,

⇒ den schwachen,

⇒ den versagenden und

⇒ den gescheiterten/zerfallenen Staat.

In dem konsolidierten Staat werden die drei Staatsfunktionen zufriedenstellend ausgeführt, bei den schwachen ist die Funktion der monopolisierten Staatsgewalt noch überwiegend intakt, jedoch gibt es Defizite bei den Wohlfahrts – und Rechtsstaatsfunktionen. Bei den versagenden Staaten ist die Sicherheitsfunktion (staatliches Gewaltmonopol) erheblich eingeschränkt, in den gescheiterten Staaten werden die drei staatlichen Grundfunktionen kaum ausgeführt, der Staat steht vor dem völligen Zusammenbruch (collapsed state).(7)

Weitere Bewertungen über Staatlichkeit werden u.a. abgegeben von der Weltbank (Governance Indikatoren), dem Center for Global Development, dem Bertelsmann Transformation Index(BTI) und dem Human Development Index (United Nations Development Programme – UNDP).(8)  Die Bewertungkriterien sind nicht einheitlich, die Kategorien sind fast immer Staaten, die entweder„funktionieren“ , in denen die eine oder andere Funktion nicht adäquat wahrgenommen wird, fragile Staaten, in denen die Funktionen unzulänglich ausgeführt werden und Staaten, in denen die staatlichen Funktionen nicht ausgeübt werden, weil nichtstaatliche Akteure, häufig mit unterschiedlichen Ambitionen, partikulare Interessen und Ziele verfolgen und die staatlichen Institutionen jedwede Kontrolle verloren haben.
Für ´Staatszerfall` als aktuelles Thema gibt es verschiedene Theorien, die hier nur skizziert werden.

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Endnote(9)

 

Zartmannx beispielsweise entwickelt die Theorie des zusammengebrochenen Staats (collapsed state). Der Staat erfüllt folgende interdependente Funktionen:

⇒ Der Staat ist souverän und bietet politische Betätigung,

⇒ hat eine transparente Organisation zur politischen

Entscheidungsfindung und ist das Symbol für Identität,

⇒ garantiert Sicherheit

Der Staat bricht zusammen, wenn er die interdependenten Funktionen nicht ausreichend ausführen kann und die Kontrolle verliert. Tetzlaff (11)  differenziert zwischen Staatszerfall und Staatskollaps. Staatszerfall ist ein anhaltender Prozess, der Staatskollaps tritt ein, wenn Recht, Ordnung und Autorität vollkommen verschwunden sind. Waldmann legt ein Mehrstufenschema zur Eigendynamik entfesselter Gewalt vor.

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Abbildung 1

III.2    An welchem Muster oder Raster orientiert man sich, wenn man einen Staat auf seine Staatlichkeit analysiert? Eine allgemein gültige und anerkannte Definition der Funktionen heutiger Staaten gibt es nicht, jedoch finden Sicherheit – Wohlfahrt – Rechtssicherheit/Legitimation als Kernfunktionen des Staates allgemein Anerkennung.(12)

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) schlägt eine normative Orientierung zur Bewertung von Staatlichkeit vor und sieht in den historisch entwickelten OECD Profilen das entsprechende Raster. Nach SWP haben sich in den OECD Staaten neben dem Gewaltmonopol (staatliche Souveränität) noch andere Dimensionen von Staatlichkeit entwickelt, so der demokratische Verfassungsstaat, der Rechtsstaat, der Verwaltungsstaat und der Sozial – oder Wohlfahrtsstaat.(13)

Die OECD

Ziele und Partner

Die OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) vereinigt 34 Länder auf der ganzen Welt, die sich zu Demokratie und Marktwirtschaft bekennen. Sie widmet sich folgenden Zielen:

• Förderung nachhaltigen Wirtschaftswachstums

• Höhere Beschäftigung

• Steigerung des Lebensstandards

• Sicherung finanzieller Stabilität

• Unterstützung der Entwicklung anderer Länder

• Beitrag zum Wachstum des Welthandels

Mitgliedsländer:

Australien Mexiko, Belgien, Neuseeland
Chile Niederlande
Dänemark Norwegen
Deutschland Österreich, Estland, Polen
Finnland Portugal, Frankreich,
Schweden, Griechenland Schweiz, Irland
Slowakische Republik, Island Slowenien, Israel
Spanien, Italien Tschechische Republik, Japan
Türkei, Kanada Ungarn, Korea,
Vereinigtes Königreich Vereinigte Staaten

Um die Umsetzung der Staatsfunktionen in Pakistan zu analysieren, werden einige der in der Studie der SWP für die jeweiligen Funktionen entwickelten Indikatoren angewandt. Dabei ist es nicht ausreichend, Indikatoren auszuwählen, um mit diesen Pakistans Staatlichkeit heute zu analysieren und entsprechende oder fehlende Leistungen positiv oder negativ zu würdigen. Vielmehr ist es notwendig, die Entstehung Pakistans, die 1947 herrschenden politischen, ökonomischen, sozialen und ethnischen Bedingungen zu erfassen, deren Auswirkungen auf die heutige Staatlichkeit zu berücksichtigen und auch die Rolle Pakistans in der Region mit der jeweils vorherrschenden geopolitischen Lage zu berücksichtigen.

III.3    Das Gebiet des heutigen Pakistan war Teil der Kolonie „British India“ (Ray). Die heutige Westgrenze Pakistans ist im nördlichen Abschnitt die ehemalige Westgrenze der Kolonie British India zu Afghanistan und im Süden zum Iran. Sie wurde 1893 unter machtpolitischen Gesichtspunkten von Groß Britanien vertraglich festgelegt (Durand Line). Afghanistan hat diese Grenze nie formal anerkannt, zumal sie seit 1993 de jure ungültig ist. Eine endgültige Regelung mit Pakistan steht aus. Die heutige Grenze Pakistans mit der Indischen Union wurde weitgehend unter dem Gesichtspunkt der religiösen Mehrheiten in den jeweiligen Regionen festgelegt. Eine Ausnahme dazu bildete die Region Kaschmir, die überwiegend muslimisch besiedelt war und ist. Nach der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans wechselten ca. 10 Millionen Muslims und Hindus über die neuen Grenzen. Eine der bedeutenden Flüchtlingsgruppen waren die von Indien nach Pakistan wechselnden Muhajir. Sie repräsentierten die Elite der muslimischen Einwanderer, siedelten überwiegend in der Provinz Sindh. Ihre Nachfahren bildeten die militante Muhajir – Separatismusbewegung, die Mitte der 90er Jahre in der Provinz Sindh für ihre Rechte kämpften, dabei die staatliche Einheit bedrohten, so wie das die militante separatistische Untergrundbewegung in Belutschistan (BLA – Belotschistsn Liberation Army) in den 1970er Jahren und bis heute tut, was zu massivem Einsatz der pakistanischen Armee führte. Während der Herrschaft Musharrafs wurde der führende nationale Politiker und frühere Gouverneur Nawab Akbar Khan Bugti von der pakistanischen Armee gezielt getötet. Noch heute gibt es eine gerichtlich unterstützte Kampagne in Belutschistan, bei der das Schicksal der während der Herrschaft Musharraf´s „verschwundenen“ Personen geklärt werden soll. Die staatliche Einheit wird heute auch von den militanten sunnitischen und schiitischen Parteien mit ihren Dschihad – Kämpfern bedroht. (15).

Eine klare Trennung von Hindus und Muslims fand durch die Schaffung der beiden Staaten Indien und Pakistan tatsächlich nicht statt – heute sind ca 13% der indischen Bevölkerung Muslims. Die Nachwirkungen dieser willkürlichen Grenzziehung und der resultierenden Flüchtlingsströme sind noch heute spürbar. Das strukturelle Erbe der Kolonialherren war die Autonomie der verschiedenen Stämme und Feudalherren, die eine nationale Integration weitestgehend verhinderten. Die Folge davon sind Cleavages (Konfliktlinien, Brüche) in der pakistanischen Gesellschaft. Gleichzeitig entstanden aversive Haltungen gegen staatliche Einflüsse. Diese Konfliktlinien verlaufen zwischen den Stämmen und deren traditioneller Macht – und Herrschaftsstruktur, zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen (arm/reich, Stadt/Land), zwischen den verschiedenen religiösen Strömungen, zwischen dem Militär und den demokratischen Kräften, zwischen Stämmen der Fata und den Terror – und Dschihadgruppen und radikal/extremistischen und gemäßigten politischen Kräften.

Cleavages gibt es in heterogenen Gesellschaften. Für die Verfasstheit des Staates sind die jeweils herrschenden Konfliktlösungsmodi ausschlaggebend. In Staaten mit rechtsstaatlicher Ordnung (s. o. OECD Profile) müssen Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen auf der Grundlage des gültigen Rechts gelöst werden. Der Staat greift in diese Auseinandersetzungen nur ein, wenn geltendes Recht verletzt wird und sorgt, falls nötig, durch Zwang, für die Einhaltung der gesetzlichen Normen. In Staaten, in denen nichtstaatliche Akteure bewaffnet und erfolgreich in Konkurrenz zur Staatsgewalt auftreten, in denen unterschiedliche Rechtsaufassungen vertreten und auch gewaltsam durchgesetzt werden, kann der Staat keine Ordnungsfunktion ausüben.

Zum kolonialen Erbe Pakistans gehörte auch die von der kolonialen Administration aufgebaute Bürokratie, der Militärapparat und die Polizeiorganisation. Das Militär spielt in Pakistan seit jeher eine besondere Rolle. Durch die erfolglosen Kriege gegen Indien, vor allem nach dem Verlust des ostpakistanischen Teils, der Gründung von Bangladesch und trotz der erfolglosen Versuche, Kaschmir in den pakistanischen Staat zu integrieren, hat das Militär die Rolle des Garanten für die Existenz Pakistans im unlösbaren Konflikt ( intractable conflict) mit Indien übernommen. Seit der Existenz Pakistans hat das Militär mehr als 30 Jahre das Land direkt regiert. In den Intervallen, in denen es gewählte zivile Regierungen gab, konnten sich diese nicht dem wirkungsvollen Eingreifen der Militärs vor allem bei Sicherheits- und Fragen zum nationalen Interesse entziehen. „… die Konferenz der Korpskommandeure der pakistanischen Armee [...] hat sich schleichend die Entscheidungsgewalt über Fragen des ʺ″  vitalen nationalen Interessesʺ″ [...] angeeignet.“(15) Diese Kompetenz bezieht sich natürlich auch auf die Absetzung einer ´korrupten` Regierung.

Der Besitz von nuklearen Sprengköpfen, der Entwicklung von Kurz- und Mittelstrecken-Raketen, die als Trägersysteme für nukleare Sprengköpfe dienen und die nicht eindeutig geklärte Verfügungsgewalt über die nuklearen Kampfmittel hat die Rolle des Militärs noch gestärkt. Zusätzlich herrscht Unsicherheit über die Lagerung und Sicherung der nuklearen Kampfmittel.

Wenn in diesem Zusammenhang über Streitkräfte gesprochen wird, dann ist immer auch der Streitkräfte übergreifende Geheimdienst ISI (Inter-Services Intelligence) betroffen, der die zentrale Machtposition innerhalb der Streitkräfte hat. Er hat in Zusammenarbeit mit der CIA wesentlich bei der Rekrutierung, Ausbildung und Bewaffnung von Kämpfern für die afghanische Widerstandsbewegung gegen die russische Besatzung mitgewirkt. Die Mitwirkung bei der Unterstützung der afghanischen Taliban seit 2002 ist unumstritten und nachgewiesen. Heute soll er die Verbindung zu den ehemaligen Guerillas gegen die Russen aufrechterhalten und die afghanischen sowohl als auch die pakistanischen Taliban unterstützen.

Polizei und Verwaltungsbürokratie, ursprünglich wirkungsvoll von der Kolonialmacht aufgebaut und gegliedert, hat durch Korruption und Klientelismus an Wirksamkeit verloren und ist kein Garant der inneren Sicherheit der Bürger in Pakistan.

Der Waffenbesitz ist ein traditionelles Recht der Stammesangehörigen der pakistanischen und afghanischen Stämme. Für den Kampf gegen die russischen Besetzer Afghanistans wurden Guerillakämpfer, zu deren Rückzugsgebieten Pakistan gehörte, mit großen Mengen von Handfeuerwaffen aller Art beliefert und ausgerüstet. Auch seit dem Einsatz der Amerikaner und der Nato-Truppen in Afghanistan wird die Region mit Handfeuerwaffen regelrecht überschwemmt.

Die heute in Pakistan lebenden Menschen, gleich welchen Alters, sind in Zeiten gewaltsamer Konfliktlösungsversuche, terroristischer Anschläge und Attentate, bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen ( z.B. Belutschistan) oder auch in Koranschulen (Madrassen: islamische Religions – und Koranschulen, aus denen häufig terroristische Kämpfer stammen) sozialisiert worden. Gewaltbereitschaft und Gewaltanwendung sind für sie daher alltäglich. Dazu kommt das, was in der Psychologie als Delegation bezeichnet wird – Eltern delegieren die Bewahrung der Ablehnung und des Hasses gegen die ´Anderen`, die ´Feinde` und die Weiterführung der Anwendung von Gewalt bewusst oder auch unbewusst an ihre Nachkommen.

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 IV. Methodik

IV.1   Das Raster mit dem die Staatlichkeit Pakistans untersucht wird.

Das Raster wird nicht Punkt für Punkt abgearbeitet, sondern im Zusammenhang dargestellt.(16)

Funktion Sicherheit:

⇒ Grad der Kontrolle über das Staatsgebiet,

⇒ Grad der Kontrolle der Außengrenzen,

⇒ Konflikte, zu deren Lösungsversuch Gewalt angewandt wird,

⇒ Zahl und Bedeutung nichtstaatlicher Gewaltakteure,

⇒ Zustand des staatlichen Gewaltapparates,

⇒ Kriminalitätsrate,

⇒ Bedrohung der Sicherheit der Bürgen durch staatliche Organe

(Willkür, Folter).

Funktion Wohlfahrt:

⇒ Grad der Teilhabe aller Bürger an wirtschaftlichen Ressourcen,

⇒ anhaltende Krisen, beispielsweise Wirtschafts- und

Währungskrisen,

⇒ Umfang der Steuer- und Zolleinnahmen,

⇒ Höhe und Verteilung der Staatsausgaben,

⇒ Höhe der Auslandsverschuldung,

⇒ Kluft zwischen Arm und Reich (Stadt/Landgefälle, staatl.

Umverteilung),

⇒ Arbeitslosenquote,

⇒ HDI Status,

⇒ Zustand staatlicher sozialer Sicherungssysteme,

⇒ Zustand der Infrastruktur, des Bildungs- und Gesundheitswesens

⇒ Signifikante ökologische Probleme.

Funktion Rechtsstaatlichkeit/Legitimation:

⇒ Umfang politischer Freiheiten (u.a. Meinungs-, Versammlungsfreiheit),

⇒ politische Partizipationsrechte (u.a. Wahlrecht aktiv/passiv,

Ämterkonkurrenz,

⇒ Umgang mit der politischen Opposition,

⇒ Ausmaß von Wahlfälschungen oder –betrug,

⇒ Grad an politischer Teilhabe von Bevölkerungsgruppen (z.B.

Minderheiten),

⇒ Existenz von schweren Menschenrechtsverletzungen (z.B. Folter),

⇒ Akzeptanz des Regimes, bzw. des politischen Systems,

⇒ Grad der Unabhängigkeit der Justiz, Zulassung rechtsstaatlicher

Verfahren,

⇒ Ausmaß an Selbstjustiz,

⇒ Zustand der öffentlichen Verwaltung,

⇒ Ausmaß an Korruption und Klientelismus.

IV.2.1. Staatsfunktion Sicherheit (Gewaltmonopol)
Die pakistanische Regierung hat nur eingeschränkt Kontrolle über das Staatsgebiet und die Außengrenzen. Insbesondere die pakistanischen Grenzen in der Provinz Kh y b e r Pa k h t u n k h w a , im Bereich der FATA und zum Iran im Westen werden nicht wirkungsvoll von pakistanischen Sicherheitskräften kontrolliert.

Zu der Kontrolle über die Außengrenzen gehört auch der Luftraum über dem Staatsgebiet – die US-Aktion gegen Osama Bin Laden ist unbemerkt von den pakistanischen Luftverteidigungseinrichtungen durchgeführt worden.

Entlang der o.a. ethnischen Konfliktlinien gab und gibt es anhaltende und ständig wiederkehrende Konflikte, in deren Verlauf Gewalt einerseits auch von staatlichen Kräften angewandt wird, andererseits aber Attentate und terroristische Aktionen von nicht-staatlichen Akteuren nicht verhindert werden können.

Die genaue Zahl nicht-staatlicher Gewaltakteure ist schwer zu ermitteln. Terrornetzwerke wie al-Qaida und Haqqanixvii , deren Kooperation von Fachleuten nicht angezweifelt wird, die Turkestani Islamic Party (TIP)(18) , die für Terroranschläge in Xinjiang ( VR China) verantwortlich ist, haben in den FATA sicheren Unterschlupf. Die Zahl der dort trainierten Kämpfer kann nur geschätzt werden. Die autonomen Stämme in der FATA werden nach traditionellen Gesetzen von Clan Chefs oder Maliks geführt. Das Stammesgesetz ist hier ausschlaggebend, nicht pakistanisches Recht. Hier ist zu betonen, dass die Autorität und Machtstellung der Clan Chefs oder Maliks von Führern der nicht- staatlichen Akteure, aber auch von Mullahs und anderen religiösen Führern untergraben wird (s.o.). Der Zustand des staatlichen Gewaltapparates ist schon beschrieben – die Streitkräfte sind straff organisiert und haben enorme wirtschaftliche Macht. Dem Militär gehören eine Vielzahl von industriellen Unternehmen, Ländereien und Dienstleistungsunternehmen. „Das Militär“ [...]  hat sich zu einer feudalen, räuberischen Kaste entwickelt“.(19) Allerdings scheinen die ethnischen und religiösen Konfliktlinien auch hier wirksam zu sein, denn die Sympathie und manchmal sogar die Unterstützung nichtstaatlicher Gewaltakteure ( z.B. Attentate) durch Angehörige der Streitkräfte ist offenkundig.(20) Bürokratie und Polizei sind durch Korruption und Klientelismus nicht zum Schutz der Bürger fähig und eher eine Gefahr für sie.

IV.2.2         Staatsfunktion Wohlfahrt.
Die unter Punkt IV.2.1 beschriebene Verteilung wirtschaftlicher Macht des Militärs macht deutlich, dass der Grad der Teilhabe der Bevölkerung an wirtschaftlichen Ressourcen gering ist. Die Provinzen Punjab und Sindh, aus denen sich die pakistanischen Eliten rekrutieren, prosperieren, während andere Regionen, beispielsweise Belutschistan, das reich an Rohstoffen ist, zu den ärmsten Regionen des Landes zählt.(21)  Aus Belutschistan stammt zwar ein erheblicher Anteil des Erdgas- Bedarfs für Pakistan, der Rückfluss aus Einnahmen ist jedoch marginal.

Der ´Human Development Report` der UN erstellt einen ´Human Development Index`, (HDI) (http://hdr.undp.org/en/statistics/) in dem Pakistan an 145. Stelle von 187 Staaten aufgeführt wird. Daraus wird ersichtlich, dass Pakistan ´Öffentliche Güter` für die Bevölkerung nicht, im für eine positive Entwicklung erforderlichen Umfang, bereit stellt. Der HDI zeigt deutlich die Schwäche Pakistans auf den Gebieten der Sozialpolitik, der Infrastruktur und des Bildungs – und Gesundheitswesens. Pakistan betreibt praktisch keine Bildungs – oder Ausbildungspolitik. Das ist besonders prekär, weil für die Kinder der unteren Schichten nur die Madrassen (nicht staatliche Koranschulen) eine Möglichkeit bieten, Lesen und Schreiben zu lernen. Das ist deswegen prekär, weil in den Koranschulen Gewalt gepredigt und terroristische Kämpfer ausgebildet werden.

Öffentliche Güter kann ein Staat nur bereit stellen, wenn er über genügend Ressourcen verfügt. Ressourcen erhält ein Staat üblicherweise durch Steuern, Zölle und andere Abgaben an den Staat. Diese Extraktionskompetenz übt der pakistanische Staat kaum aus. Die Steuerquote liegt unter 10%, die direkte Personenbesteuerung ist fast nicht existent. Die überwiegende Mehrheit der pakistanischen Bevölkerung zahlt keine Steuern, so auch nicht die Feudalherren in den ländlichen, ertragreichen Regionen. Zusätzlich gehen dem Staat ca. 600 Millionen US$ durch den Schmuggel an der afghanisch/pakistanischen Grenze verloren. Das pakistanisch/afghanische Handelsabkommen sieht vor, das Waren aus Pakistan zollfrei nach Afghanistan eingeführt werden dürfen. Durch Re-Importe pakistanischer Waren nach Pakistan, die nicht von staatlichen Kontrollen verhindert werden, verliert der Staat mögliche Zolleinnahmen.

Nicht nur durch Mangel an Ressourcen, oder mangelnder Bereitschaft der Regierungen, sondern auch wegen des Fehlens eines gesellschaftlichen Konsens` zur Erfüllung der Wohlfahrtsfunktion des Staates, ist eine sehr kleine Schicht der Bevölkerung, gemessen an der Einwohnerzahl, privilegiert und wohlhabend, während die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung (ca. 80%) unterhalb der von der UN gesetzten und veröffentlichten Armutsgrenze lebt.

IV.2.3         Staatsfunktion Rechtsstaatlichkeit und Legitimität.

Der Staat ist die Institution, die Recht setzt und dieses Recht durchsetzt. So ist im Rechtsstaat die Rechtsprechung berechenbar und ermöglicht das friedliche, gewaltfreie Zusammenleben der Bürger. In Pakistan hat der Staat keine Rechtskompetenz, weil ein landesweit anerkanntes Recht nicht existiert. Es gibt zwar eine Verfassung auf der Grundlage des britischen Common Law, die zeitweise ausgesetzt war (Ausnahmezustand), aber es gibt Streit darüber, ob die Verfassung ein politisches System wie die britische Repräsentative Demokratie (Westminster-Modell) vorschreibt oder eine Präsidentielle Demokratie.(22) Die Verfassung, die in mehreren Schritten islamisiert wurde (Scharia), gilt in Teilen des Landes nicht. Im Rahmen der pakistanischen Gesetzgebung überprüft der Federal Shariat Court (Scharia-Gerichtshof des Bundes) Gesetzesvorlagen, ob sie mit islamischem Recht vereinbar sind. Der Scharia – Gerichtshof kann Änderungen verlangen und durchsetzen, wenn nach seiner Meinung der Gesetzentwurf mit islamischem Recht nicht vereinbar ist.

In Pakistan wird überall dort Selbstjustiz geübt, wo das staatliche Gewaltmonopol nicht durchgesetzt werden kann. ´Ehrenmorde`, Morde wegen Sippenhaft oder gewaltsam ausgetragene Stammesfehden sind an der Tagesordnung. In den Großstädten wie Karatschi gibt es religiöse oder ethnische Milizen, die gegen die hohe Kriminalitätsrate nach eigenen Regeln und Gesetzen vorgehen und auch Recht sprechen, weil die staatliche Polizei und Rechtsprechung versagt.(23)  Es existieren offizielle staatliche Rechtsvorstellungen neben anderen Rechtsvorstellungen, es herrscht Rechtspluralismus.

In den FATA, für die der Staatspräsident direkt verantwortlich ist, gilt das pakistanische Strafgesetzbuch nicht, sondern die ´Frontier Crimes Regulation` der britischen Kolonialmacht von 1901. Die Clan Chiefs, Maliks oder Stammesälteste können nach der Scharia und/oder Stammestradition Recht sprechen.(24)  So konnte es auch zu einem Urteil gegen einen Amtsarzt aus dem Kyber-Distrikt kommen, der dort nach lokalem Recht zu 33 Jahren Gefängnis verurteilt wurde und dagegen keine Berufung einlegen kann, weil es das Rechtsmittel dort nicht gibt. Er wurde verurteilt, weil er den USA geholfen haben soll, das Versteck von Osama Bin Laden zu finden. Die Strafe kann ihm nur durch den zuständigen Gouverneur oder den Staatspräsidenten erlassen werden.(25)

Es gibt in Pakistan nur eine begrenzte Gewährung politischer Freiheitsrechte für die Bürger. Es gibt Einschränkungen bei der Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit. Die Grenze bei der Meinungsfreiheit verläuft bei der Kritik am Präsidenten und vor allem an der Rolle des Militärs im Staat. Bei der Parlamentswahl 2002 sind nach übereinstimmendem Urteil von Beobachtern massive Wahlfälschungen vorgekommen. Wie stark das Militär, und hier besonders der Geheimdienst ISI in ständiger Konkurrenz zur zivilen Regierung steht, hat die ´MEMOGate Affaire deutlich gemacht. http://www.chinadaily.com.cn/cndy/2011-12/20/content_14290596.htm.

Der Oberste Gerichtshof Pakistans betreibt unter der Leitung des Obersten Richters eine eigenständige Politik, die auch von persönlichen Animositäten geleitet zu sein scheint. Den Rücktritt des bis Juni 2012 amtierenden Ministerpräsidenten hat das Oberste Gericht erzwungen. Der neu gewählte Ministerpräsident sieht sich den gleichen Forderungen des Obersten Gerichts ausgesetzt, deren Ablehnung zum erzwungenen Rücktritt seines Vorgängers führten. Der Chief Justice, der oberste Richter ist überdies in ein Verfahren wegen Korruption gegen seinen Sohn verwickelt, nach dem er selbst als Mitglied eines Gerichtsausschusses, der den Fall untersuchen sollte, teilnehmen wollte.

 V. Ausblick.

Die Bewertung von Staatlichkeit Pakistans nach der Darstellung in Abbildung 1 ergibt, dass es sich bei dem Beispiel Pakistan um versagende Staatlichkeit handelt. Der Grat zu einem gescheiterten Staat ist allerdings sehr schmal, die Grenze fast überschritten. Es handelt sich hier noch nicht um einen ´zusammengebrochen Staat` (collapsed state, s. Abb.1 S.10), weil in Teilen des Landes der Staat (für einen eng begrenzten Teil der Bevölkerung) noch eine eingeschränkte Sicherheits– und Wohlfahrtsfunktion ausüben kann. Dass es noch nicht landesweit zu gewalttätigen und anarchischen Protestbewegungen gekommen ist, liegt daran, dass die Stammesorganisationen, militante Terrorgruppen in den jeweiligen Gebieten und Ausbildungslagern und militante religiöse Vereinigungen geschlossene soziale Ordnungen aufrechterhalten. Die Stämme, Terrorgruppen und militanten religiösen Vereinigungen vertreten vehement ihre Eigeninteressen, gemeinsame gesellschaftspolitische Ziele oder Forderungen werden nicht formuliert.

Die tatsächliche Entwicklung des fragilen Staates Pakistan ist offen, folgende Szenarien sind denkbar –

  • •  Pakistan könnte eine Militärdiktatur werden,
  • •  ein radikal islamischer Staat,
  • •  ein Staat unter radikal islamistischer und militärischer Herrschaft oder
  • •  ein Staat ohne zentrale Regierung, von „Warlords“ beherrscht.(26)

Besonders bedenklich erscheint die gegenwärtig nur rudimentär ausgeübte Sicherheitsfunktion unter dem Gesichtspunkt der nuklearen Kampfmittel Pakistans. Ethnische und religiöse Konfliktlinien sind auch in den Streitkräften vorhanden, daher scheint es nicht die Frage zu sein ob, sondern nur wann es nicht-staatlichen militanten Akteuren gelingt, nukleare Kampfmittel in ihren Besitz zu bringen. Das würde nicht nur Zentralasien destabilisieren und besondere Herausforderungen für die Russische Föderation, Indien, die VR China und die USA als asiatisch/pazifische Ordnungsmacht bedeuten, sondern weltweite Unsicherheit und Furcht vor terroristischen Aktionen mit nuklearen Kampfmitteln verbreiten.

Endnoten.

(1) Vgl. Rashid, Ahmed: Sturz ins Chaos. Afghanistan, Pakistan und die Rückkehr der Taliban. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2010. (= Schriftenreihe Band 1086) S.173-174.

(2) Zit. nach Wieland, Carsten: Nationalstaat wider Willen. Politisierung von Ethnien und Ethnisierung der Politik: Bosnien, Indien, Pakistan. (= Campus Forschung, Band 814). Frankfurt/Main 2000. S. 286/7.

(3)Vgl. Ders. Nationalstaat wider Willen. S. 342.

(4) Vgl. CIA World Fact Book. Pakistan. https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/pk.html 31.5.2012 1155.

(5) Vgl:IISS. The Military Balance 2012. S.272

(6) Vgl. Schneckener, Ulrich: Zur Analyse fragiler Staatlichkeit. In: Schneckener, U. Hrsg. Fragile Staatlichkeit. „States at Risk“ zwischen Stabilität und Scheitern.(= Internationale Politik und Sicherheit. Stiftung Wissenschaft und Politik. Band 59. Baden-Baden, 2006.) S.18.

(7)  Vgl. Ders. S. 24/25.

(8)  Vgl. Beckmann, Oliver: Pakistans Entwicklung zum „Failed State“ und die internationalen Folgen. Marburg, 2009. S. 8ff.

(9)  Vgl.: Endnote14

(10)  Zartmann: „collapsed state.“ Zit. nach Beckmann. S.12.

(11)  Zit. Ebd. S.14.

(12) Vgl. Schneckener: S.21.

(13) Ebd. S.18.

(14) Wilke, Boris: Pakistan: Scheiternder oder „überentwickelter“ Staat? In: Schneckener, U. Hrsg. Fragile Staatlichkeit. „States at Risk“ zwischen Stabilität und Scheitern. S.306

(15) Ebd S. 311.

(16) Vgl. Fußnote 6. S. 31ff.

(17) http://articles.cnn.com/2011-10-19/asia/world_asia_pakistan-kayani-us_1_haqqani-network-isi-north-waziristan?_s=PM:ASIA.

(18) Vgl. The Jamestown Foundation. URL: C&tx_ttnews%5Bany_of_the_words%5D=pakistan&tx_ttnews%5Btt_news%5D=38856&tx_ttnews%5BbackPid%5D=7&cHash=15eaff53eacf4138545462e88dd55351.

(19)Siehe Siddiqa, Ayesha: Military Inc.: Inside Pakistan´s Military Economy. Zit nach Ladurner, Ulrich: Bitte informieren Sie Allah. Terrornetzwerk Pakistan. München 2008. S 105.

(20)Ders. S. 72,73.

(21) Vgl. Beckmann, O. S. 94.

(22)  Vgl. Wilke, B. S. 313

(23)  Ebd. S.310.

(24)  Vgl. Ladurner. S.

(25)  Vgl. FTD: 33Jahre Haft v.23.05.2112, 15:30. http://www.ftd.de/politik/international/:arzt-half-bei-bin-laden-suche-33-jahre-haft/70041184.html.

(26)  Vgl. Brzezinski, Zbigniew: Strategic Vision. America and the Crisis of Global Power. New York, 2012. S. 97.

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